Expertenmeinung | Amazon der Zukunft – so wird sich der Marktplatz entwickeln
Amazon ist aus der heutigen Welt gar nicht mehr wegzudenken. Ein Großteil der Konsument:innen kauft auf der Onlineplattform und nutzt sie sogar als Suchmaschine, um sich einen Überblick über Angebote und Preise zu verschaffen.
Der Konzern hat sich in den letzten Jahren immer weiterentwickelt und das Spielfeld für Onlinehändler:innen neu aufgerollt. Noch vor kurzem standen viele Advertising-Möglichkeiten nur Vendoren zur Verfügung, nun sind sie allen Sellern zugänglich – kein Wunder bei dem Umsatz, den diese dem Onlineriesen bringen.
Aber wie wird sich das alles weiter entwickeln? Wo geht die Reise hin? Wird es andere und neue Tools geben und die Entwicklung im gleichen Tempo voranschreiten?
Wir haben Amazon-Experten zurate gezogen und versucht, gemeinsam einen Blick in die Zukunft von Amazon, FBA und Trends zu werfen.
FBA Trends
Wie siehst Du die Entwicklung von Fulfilment by Amazon (FBA) in den nächsten Jahren?
Igor Branopolski: FBA ist eine der zahlreichen Dienstleistung von Amazon und ein Bestandteil von Amazon Prime für die Käufer. Gewiss werden einige Prozesse dank dem technischen Fortschritt und dem weiteren Wachstum von Amazon Logistics verbessert, damit der Onlineriese noch effektiver arbeiten kann. Effektivität und Schnelligkeit werden also, wie auch in den Jahren zuvor, in den Vordergrund gestellt. Zusätzlich kommt das Versprechen von Amazon, bis zum Jahr 2040 CO2-Neutralität zu erreichen. Da werden wir sehr wahrscheinlich neue innovative Lösungen sehen, wie auch Fettnäpfchen beobachten, wie zuletzt mit den AmaZen-Boxen für die Lager-Mitarbeiter. Wer jedoch heute schon in Sachen Logistics nachziehen muss, sind die klassischen Transportdienstleister wie DHL, DPD, Hermes etc., um mit Amazon Schritt halten zu können.
Im vergangenen Jahr kam es zu Beginn der Pandemie zu Engpässen und zu Lieferbeschränkungen bei FBA. Anbieter von Waren, die nicht zum täglichen Bedarf gehören, durften keine Artikel mehr an die Fulfillment Center senden. Wird sich FBA ändern, und wie können sich Händler in Zukunft vor ähnlichn Szenarien schützen?
Igor Branopolski: An dieser Stelle wird Amazon im Falle einer Pandemie oder ähnlichen Katastrophen weiterhin eigene Artikel oder dringende Waren priorisieren, was auch absolut logisch ist. Bereits am Anfang der Pandemie switchten viele Händler auf die eigene Auslieferung der Waren um. Andere haben die Kapazitäten der Amazon-Läger voll ausgenutzt, solange der Lagerbestandsmaximum dies zugelassen hat. Das wäre nur so ein Tipp am Rande.
In der Regel verfügen viele Verkäufer aber bereits über eigene Läger oder nutzen andere Fulfillment Möglichkeiten. Setzt man nämlich nur auf Amazon, hat man ein grundsätzliches Problem. Nehmen wir als Beispiel das Weihnachtsgeschäft: da kann sogar der Eigenversand besser für die Buy Box sein, weil die enormen Bestellmengen in den wenigen Wochen vor Weihnachten die Amazon Fulfillment Center überlasten und die Auslieferung verlangsamen.
Ronny Marx: FBA wird sich schon ein Stück weit ändern. Aber Amazon wird weiterhin ein extrem wichtiger Kanal bleiben. Wichtig ist, dass man als Händler lieferbar bleibt.
Ein ganz wichtiger Aspekt ist das Thema One-Stop-Shop. Wenn ich z.B. als deutscher Händler ins europäische Ausland verkaufe, und es gibt dort ein deutlich geringere Lieferschwelle, mache ich mich bei der Überschreitung dieser in den jeweiligen Ländern steuerpflichtig. Für ein solches Szenario brauche ich auch eine eigene Organisation oder Steuerberater, die mein Unternehmen dahingehend berät.
Ereignisse wie COVID oder große Pannen wie ein feststeckender Tanker im Suezkanal kann keiner voraussehen. Das zeigt aber die Notwendigkeit der Flexibilität der Warenströme. Ich muss mein Unternehmen so ausrichten, das auch mal unvorhergesehene Ereignisse den Warenstrom nicht vollkommen lahm legt.
Amazon Advertising
Wie wird sich Amazon Advertising entwickeln? Was ist Deine Prognose?
Otto Kelm: Amazon überschlägt hier die Neuerungen in einem Maße, wo keiner mehr hinterherkommt. Selbst Tools und Agenturen sind kaum noch in der Lage vollumfänglich zu agieren. Der Schwerpunkt liegt auf wenigen einfachen Ansätzen, die am besten funktionieren. Spezielle Nutzungen sind zwar möglich, sind aber zeitaufwendiger und deutlich komplexer im Gebrauch. Das muss Amazon erkennen und vereinfachen.
Heute über einen eigenen Amazon DSP-Zugang nachzudenken, ohne die Grundlagen zu meistern, ist schwer und nicht empfehlenswert. Die Prognose lautet daher – Amazon muss die Entwicklung drosseln. Die Händler und Anwender müssen sich weiterbilden – sonst kann es zu getrennten Entwicklungen kommen, die nicht zielführend sind.
Ronny Marx: Amazon Advertising war schon immer ein sehr dynamischer Bereich. Diese Dynamik hat sich im letzten Jahr und vor allem in den letzten Monaten beschleunigt. Ein großer Treiber dieser Entwicklung sind die Sponsored Display Ads. Diese sind den ehemaligen Private Display Ads ähnlich, jedoch erheblich vielfältiger im Hinblick auf Optionen.
Es werden auch die Kosten im Bereich Search Display – aufgrund der erhöhten Konkurrenz – steigen. Das heißt im Gegenzug, dass die Seller ihre Ziele klarer gestalten müssen, damit sich das investierte Budget auch lohnt: “Was will ich erreichen, mit welcher Langfristigkeit.”
Wie wird sich die DSP also die Demand-side Plattform weiterentwickeln? Wird es auch für kleinere Unternehmen sinnvoll sein?
Ronny Marx: Amazon DSP – also im Bereich des Programmatic Advertising – ist im Bereich Self Service eine recht neue Disziplin. Es gibt sie zwar schon relativ lange im Managed Service Bereich, Amazon stellt aber diesen Bereich weitestgehend komplett ein.
Es wird also nicht mehr großartig Kampagnen geben, die von Amazon gemanaged werden, sondern das wird alles über Service Partner laufen. Das weiß ich deswegen so genau, weil wir eine von vier Premium Service Partnern in Deutschland von Amazon sind, was die DSP angeht. Das heißt, wir tauschen uns mit Amazon auf einem sehr hohen Level aus.
Eine der PPC Möglichkeiten sind die Sponsored Display Ads. Das ist eine Amazon DSP Lite Version, weil der Händler basierend auf Klick, also CPC, seine Werbung schalten kann. Dahinter steckt ein programmatischer Ansatz, das heißt, ich als Händler targetiere Nutzer entweder aufgrund ihrer Eigenschaften, die sie auf Amazon mitbringen, ihres Surf- und Kaufverhaltens oder, weil sie in bestimmte Segmente fallen.
Die Größe des Unternehmens ist bei Amazon DSP weniger entscheidend, es funktioniert nach CPM, also Cost-per-Mille – immer dann, wenn 1.000 Mal meine Anzeige angezeigt wird, werde ich abgerechnet, unabhängig ob gekauft oder geklickt wurde. Das erfordert natürlich auch mehr Budget. Der Grund dafür ist simpel: der Algorithmus braucht anfangs viele Daten, um zu sehen, welche Nutzer auf welche Art und Weise reagieren. Man sollte daher bereit sein, monatlich ca. 5.000-6.000 Euro für eine Kampagne auszugeben. Tendenziell aber eher 10.000-20.000 Euro pro Monat. Dann lohnt sich das erst, langsam in diesen Bereich reinzugehen.
Was kann man damit machen? Du kannst Video-Ads schalten, Anzeigen auf Twitch, auf den Fire TV Sticks oder Fire TV oder auch Lockscreens auf Kindle. Da lässt sich extrem viel machen, man braucht aber ordentlich Budget, um das ganze zu bedienen. Doch im Allgemeinen wird sich da noch sehr viel entwickeln.
Gerade durch Corona ist Amazon stark gewachsen. Auch die Anzahl an Sellern ist gestiegen. Mit welchen neuen Trends und Möglichkeiten schafft man es, da aus der Masse herauszustechen?
Otto Kelm: Wie immer gute und auf eine bestimmte Zielgruppe ausgerichtete Produkte zu fairen Preisen mit dem echten Mehrwerten anbieten. Zudem gilt es, nicht auf Amazon aufzufallen, sondern einen Schritt zurück gehen, wo die Bedürfnisse geweckt werden, wo Kunden nach Ideen und Lösungen stöbern und suchen – das ist eben nicht Amazon!
Die Relevanz von Keywords und Amazon SEO ist in den letzten Jahren stark gepusht worden. Wie wird sich das weiterentwickeln? Welche Relevanz werden Keyword und Amazon SEO in Zukunft haben?
Otto Kelm: Da wurde weder zu groß gepusht, noch hat sich etwas verändert oder wird sich verändern. Einzig gewisse Bereiche haben weniger oder andere Gewichtungen bekommen. So werden zum Beispiel die beworbenen Artikel in den Suchbegriffen der organischen Listings nicht mehr so hochgepusht wie vor Jahren.
Ansonsten empfehle ich die Kundensprache mit der jeweiligen Tools oder Amazon Brand Analytics zu analysieren. Das wird deutlich mehr Output bedeuten.
Werbung außerhalb von Amazon
Welche Trends kündigen sich schon heute im Bereich der Werbung an?
Otto Kelm: AmazonDSP und die neu eingeführten Amazon Zielgruppen bei Sponsored Display Ads zeigen, was alles möglich ist. Amazon stellt die eigenen Daten über Kunden strukturiert und anonymisiert für die Werbung zur Verfügung und spielt diese auch außerhalb von Amazon aus. Das ist ein Trend, der schon gut drei Jahre Fahrt aufnimmt und weiter wachsen wird.
Der Trend, auch außerhalb von Amazon zu werben, bspw. bei Social Media und Google Ads, wird immer populärer. Welche Kanäle sind hier die wichtigsten? Wird das langfristig anhalten? Welche neuen Möglichkeiten werden sich entwickeln?
Otto Kelm: Einerseits gilt es, Amazons Möglichkeiten zu nutzen, andererseits spricht man nicht ohne Grund von Pinterest- oder TikTok-Readiness der Marken. Man muss da sein, wo die Zielgruppe sich informiert oder austauscht, um die Kunden zu gewinnen oder zu binden. Egal ob mit Werbung oder anderen Content-Formaten, die die potentielle Zielgruppe gerne annimmt. Das machen die großen Marken über Radio, TV, Print etc. bereits seit Jahren. Nur für die kleinen Marken wird es immer interessanter, da man Kunden nun viel granularer ansprechen kann.
Ronny Marx: Soziale Plattformen sind sehr beliebt. Pinterest hat sich extrem weiterentwickelt. Klassische Kanäle wie Facebook oder Instagram sind nach wie vor sehr gut. TikTok ist einer der leuchtenden Sterne und wird auch immer näher in den Fokus rücken, was professionelle Kampagnen angeht, so wie wir das von Facebook und Instagram kennen.
Es geht aber immer darum, die richtige Zielgruppe zu treffen. TikTok hat ein sehr junges Publikum und ist kein Shopping Channel, es geht also da mehr um Awareness der Produkte und nicht direkten Umsatz im Sinne von, ich investiere jetzt 3.000 Euro und mache daraus am Ende des Monats 20.000 Euro. Das funktioniert nicht.
Der primäre Fokus, bevor man sich auf irgendwas anderes konzentriert, sollte nach wie vor bei Amazon bleiben, Stichwort Retail Readiness. Ordentliche Kampagnen aufsetzen und zusehen, dass dieser Kanal ausgeschöpft ist. Wenn das funktioniert und ich genug Ressourcen habe, gehe ich den nächsten Kanal zielgruppengerecht an. Bevor ich das nicht habe, ist die Groundwork nicht getan und dann sollte man sich nicht um Social Media kümmern, sondern um seinen Absatz auf Amazon.
Wird sich Live-Selling bei Amazon durchsetzen / steigen?
Otto Kelm: Das ist schwer zu sagen. In den asiatischen Märkten ist Live-Selling deutlich intensiver in das Shopping-Erlebnis verankert, während in Europa und USA das „Einkaufen gehen“ über Jahrzehnte geprägt wurde. Amazon nutzt diese Funktion in den USA schon seit Jahren – ob und wann dies wirklich einen Mehrwert bietet, wird sich zeigen.
Ronny Marx: Ich glaube es ist ein nettes Gimmick, weil es etwas anderes ist, wird aber eine Nischen-Erscheinung bleiben. Ich will meine Produkte dann kaufen, wenn es mir passt. LiveSelling heißt wieder, ich habe dort einen vorgefertigten Channel zu einer vorgefertigten Zeit und ich muss dann Zeit haben. Dann heißt das Live. Ich könnte aber auch sagen On-Demand-Video-Selling, dann kann ich mir das „Live-Video“ anschauen, wenn ich verfügbar bin. Aber Amazon und der eCommerce haben uns gelehrt, die Produkte werden dann verkauft, wenn die Nutzer bereit sind, sie zu kaufen. Und nicht wenn ein vorgefertigtes Zeitfenster einem das vorschreibt.
Was ist Amazon Attribution und wer sollte es nutzen?
Ronny Marx: Bei Amazon Attribution geht es um Werbung, Werbeaktivitäten und Marketingmaßnahmen außerhalb von Amazon. Dort können Seller sehen, wie sich diese Aktivitäten auf die Verkäufe und die Impressionen, also auf die Präsenz ihrer Produkte auf Amazon, ausgewirkt haben. Beispielsweise lässt sich damit zurückführen, wegen welcher – Amazon externen – Aktion die Kunden deine Produkte in den Warenkorb gelegt haben.
Voraussetzung dafür, ist dass man eine eigene Marke hat, sich also für die Amazon Brand Registry freigeschaltet hat. Das kann ich auch nur jedem ans Herz legen, da man ohne diese echt eingeschränkt ist in seinen Handlungsmöglichkeiten, vor allem bei Werbemöglichkeiten.
Als Faustregel kann man sagen: mehr Daten sind immer eine sinnvolle Sachen und man sollte diese Möglichkeiten nutzen, soweit es geht.
Amazon Strategie
In den letzten Jahren wurden immer mehr Möglichkeiten für Händler freigegeben, die ursprünglich nur für Vendoren nutzbar waren. Wird es in diesem Tempo weitergehen? Welche weiteren Möglichkeiten könnte es geben?
Ronny Marx: Das Angleichen der Amazon Partnerschaftsmodelle Seller und Vendor wird sich auf jeden Fall fortsetzen. In welchem Umfang und in welcher Form ist noch schwer zu sagen. Es wird beispielsweise spekuliert, dass das Vendor Central nicht mehr als separates Modell, sondern als Add On des Seller Centrals integriert wird.
Generell denke ich, dass sich das Vendoren Modell nur für die ganz großen lohnen wird, das Seller Modell im Gegenzug stets weiter wachsen wird. Aber zum jetzigen Zeitpunkt bleibt das weiterhin ein Blick in die Glaskugel. Aber ja, ich kann mir gut vorstellen, dass Seller weiter Prio bei Amazon werden wird. Spannende Sache!
Der Trend entwickelt sich immer weiter hin zum Multichannel-Verkauf. Wie siehst Du das? Kann man überhaupt noch erfolgreich sein, wenn man nur bei Amazon verkauft?
Igor Branopolski: Man kann auch NUR auf Amazon verkaufen und damit sogar sehr erfolgreich sein, aber das kann auch sehr gefährlich werden und ist vor allem nicht zeitgemäß. Heutzutage haben Händler viele Möglichkeiten, die größten Bereiche des eigenen Geschäfts zu automatisieren. Durch Warenwirtschaftssysteme kann man mit wenigen Klicks auf allen Marktplätzen verkaufen, wieso sollte man darauf verzichten und Gefahr laufen, dass bei Amazon mal was nicht gut läuft. Außerdem – betreibt man kein Multichannel-Verkauf – entgeht einem eine große Zielgruppe, die schon aus Trotz nicht auf Amazon einkauft.
Otto Kelm: Leider wurde dies komplett falsch umgesetzt, statt Multichannel wurde einfach alles überall gelistet und man hat geschaut, was passiert. Die wenigstens haben Ziele je Plattform gesetzt und Produktbereiche an die jeweiligen Zielgruppen angepasst. Das Thema ist dann durch Schnittstellen-Tools so vereinfacht worden, dass man nicht mehr nachdenkt, sondern die jeweiligen Märkte blind „überlistet“ – zumeist ohne relevante Erfolge – Hauptsache alles ist überall.
Natürlich kann man nur mit Amazon erfolgreich sein – dazu muss man aber, wie vorab gesagt, die Kunden „vor“ Amazon erreichen.
Ronny Marx: Klar kann man das. Es ist oft die Rede von dem zweiten Standbein und wie wichtig es ist. Das hört sich in der Theorie nett an, funktioniert in der Praxis aber oft nicht. Was momentan durch die Decke geht – zumindest was Nutzerzahlen angeht – ist Shopify und andere Cloud Shopping Lösungen. Ich kann mir vorstellen, dass die Themen Shopping und Individualisierung für bestimmte Produkte, die besser erklärt werden müssen, durchaus funktionieren können. Aber der Hauptteil wird nach wie vor über Amazon laufen. Man wird nur mehr Geld investieren müssen und genau darauf achten, in welchem Bereich man einsteigt.
In den letzten Jahren entwickeln sich Kunden immer weiter weg vom Markenbewusstsein. Spricht das für Private Labels oder ist Handelsware noch attraktiv?
Igor Branopolski: Handelsware wird nie aussterben und bleibt für viele immer attraktiv. Brands, ob klein oder groß, haben ihre Besonderheiten und werden weiterhin eine große Rolle spielen: Sie setzen Trends und erschaffen Nachfrage durch Influencer oder ausgeklügelte Marketing-Kampagnen, erfüllen bestimmte Qualitätsansprüche oder erreichen Zielgruppen, die außer Acht gelassen wurden, auch außerhalb von Amazon & Co.
Ich würde die Frage auch so gar nicht stellen: Private Label oder Handelsware? Jeder Händler trifft da seine eigene Entscheidung – beides hat Vor- und Nachteile und hat seine Zielgruppen. Auch Kunden sehen nicht mehr nur schwarz oder weiß. Häufig suchen sie zwar nach Brands und nicht nach Gegenständen, indem sie nicht einfach eine Spielkonsole sondern eine Playstation 5 kaufen. Gleichzeitig greifen sie bei der Suche nach einem Duschkopf, nach einem billigen Produkt Made-in-China und nicht nach hansgrohe zum doppelten Preis.
Otto Kelm: Ich kann das nicht im Ansatz nachvollziehen. Marken werden auf Amazon gesucht. Marken werden gekauft. Wir sehen kein Markensterben. Wir sehen nur, dass kleinere Zielgruppen für große Marken schlicht unrentabel sind. Dadurch können kleine Anbieter für ihren Bereich Umsätze und Gewinne erreichen, die für sie passabel sind – aber am Ende nicht skalierbar sind. Was insgesamt gut ist – so findet jeder Topf seinen Deckel und umgekehrt.
Ronny Marx: Das Thema Reselling ist nicht tot, aber am Aussterben. Das funktioniert in wenigen Fällen, beispielsweise, wenn man das exklusive Verkaufsrecht in bestimmten Ländern hat, oder man von riesigen Margen spricht, mit über 1.000 Sales am Tag, wo am Ende immer noch genug übrig bleibt, um ein Business daraus zu machen.
Private Label kann funktionieren, wenn man sich viele Gedanken macht. Sich irgendwas aus China zu holen, sein Logo drauf zu knallen und auf den großen Umsatz zu hoffen, weil die Nische gerade nicht so besetzt ist, kann funktionieren, ist aber sehr temporär. Die herstellenden Chinesen denken sich natürlich auch: “Warum lasse ich den überhaupt mein Zeug verkaufen, ich knalle da selber mein Logo drauf, schicke meine Review-Armeen los und dann schießt das Produkt nach oben.” Man muss sich also Gedanken machen und sich auf Produkte spezialisieren die “unique” sind. Klingt Buzzword-mäßig, ist aber tatsächlich so.
Immer öfter werden Amazon Businesses aufgekauft. Wie wird sich das weiterentwickeln und welchen Einfluss wird das auf Verkäufer, Preise etc. haben?
Igor Branopolski: Der Aufkauf ganzer Verkäufer-Konten liegt unter anderem daran, dass es zu viel freies Geld auf dem Markt gibt und Geld gerade sehr günstig ist – niedrige Zinsen und viel Kapital, das quasi danach schreit, eingesetzt zu werden. Dieser Trend ist auch in der Immobilienbranche bekannt. Doch eigentlich ist der Anteil der aufzukaufenden Konten auf Amazon gar nicht so hoch. Das gab es schon immer und wird es erstmal so weiter geben. Bis dann die Preise so hoch sind, dass das Hinzukaufen nicht mehr lukrativ ist, während der Konkurrenzkampf auf Amazon weiterhin wächst.
Otto Kelm: Das wird man schnell sehen in 2022. Man kann ja dann live verfolgen, ob diese ominösen superguten Aufkäufer alles so gut können, wie sie behaupten oder ob die Investitionsblase platzt. Der Einfluss wird positiv sein für den Fachkräftemangel in der Amazon-Welt. Es könnten mehr Arbeitskräfte von Händler A zu Händler B wechseln etc. Ich sehe da nur wenige erfolgversprechende Ansätze. Nur vom Aufkaufen wird nichts wachsen – man benötigt Daten und Kompetenz und nicht einfach 5 große gut laufende Marken.
Durch Tools lassen sich immer größere Bereiche des E-Commerce automatisieren. Welche Tools braucht man wirklich, um langfristig erfolgreich bei Amazon zu verkaufen?
Igor Branopolski: Tools sind immer eine gute Investition, manuelle Anpassungen sind ja längst ade. Die Mindestanforderung sind ein Warenwirtschaftssystem, ein Repricer und ein PPC-Kampagnen-Optimierer. Wenn die Lösungen intelligent sind und sinnvoll eingesetzt werden, nehmen sie immer mehr Arbeit ab. Sinnvoll heißt – der Nutzer setzt sich mit den Tools auseinander und optimiert sie für das eigene Business.
Nehmen wir als Beispiel den SELLERLOGIC Repricer. Die am häufigsten genutzte Strategie ist die Buy Box. Wenn der Händler bei der Einrichtung des Reprices den Min- und den Max-Preis falsch setzt , dann kann die Marge nicht ausgeschöpft werden. Der Händler verkauft entweder zu wenig, weil er mit seinem Preis keine Buy Box bekommt, oder zu günstig, weil er mit dem falschen Preis in der Buy Box ist. Wie gesagt muss der Händler sich mit seinen Tools auseinandersetzen, um die volle Kraft auszuschöpfen. Genau deswegen bieten wir unseren Kunden ein umfangreiches Onboarding und unser Customer Success Management Team steht bei Fragen jederzeit zur Verfügung.
Otto Kelm: Jeder Bereich ist per Tool, Agentur oder Dienstleistung einkaufbar. Jeder Bereich hat seine Berechtigung. Am Ende liegt es ja in der jeweiligen eigenen Befähigung der jeweiligen Händler, was sie können und was sie benötigen. Der Markt ist sehr gut durchdrungen, aber noch lange nicht am Ende. Da werden aktuell noch zu wenig Tools, Agenturen, Dienstleister aufgekauft oder zusammengeschlossen. Logistik, Warenwirtschaft, Preissteuerung oder Tools für Fehlvereinnahmungen oder Steuern von Marktplatzdaten sind absolute Basics, die man haben sollte.
Wie sieht Deiner Meinung nach das Amazon-Business der Zukunft aus?
Igor Branopolski: Verkaufen auf Amazon wird generell immer schwieriger, weil weitere Hürden entstehen: qualitativ schlechte Produkte fliegen raus, da die Zufriedenheit der Verbraucher noch wichtiger wird. Die EAN-Anbindung ist längst ein Bestandteil für den Absatz der Produkte. Spannend wird es dann, wenn die CE-Sicherheitsrichtlinie umgesetzt wird. CE gibt es auch schon ewig, doch jetzt soll noch mehr geprüft und von Amazon abgefragt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Amazon in Zukunft mit weiteren Anbietern wie TÜV Süd und ähnlichen zusammenarbeiten wird.
Sehr wahrscheinlich werden viele chinesische Händler den Marktplatz verlassen müssen, da die CE-Konformität vieler Artikel nicht vorhanden ist. Dadurch entsteht deutlich mehr Potenzial für die Online-Händler auf der europäischen Ebene, die schon immer zur CE-Zertifizierung per Gesetz verpflichtet gewesen sind. Nun werden auch Plattformen in die Pflicht genommen, dies zu kontrollieren. Jedenfalls steht der Kunde noch mehr im Fokus und das wird sich nicht nur auf der Qualität auswirken, sondern noch mehr Service, noch schneller, noch kundenfreundlicher.
Otto Kelm: Das kann ich nicht beantworten. Hier sind zu viele Unwägbarkeiten hinsichtlich der Gesetze und wirtschaftlichen Faktoren zu berücksichtigen. Ein Schiff steht quer und die Welt zittert! Ich sehe aber den direkten Gang der Hersteller als Marke zum Kunden als Zukunft und damit der Wegfall der vielen Zwischenhändler bzw. Reseller.
Ronny Marx: Private Label, ja, aber anders gestaltet. Wir werden wahrscheinlich einen kleinen Dip im Onlinehandel sehen, weil die Leute sich nun wieder auf das Offline-Shopping freuen. Das wird sich dann bis Ende des Jahres wieder normalisieren. Grundsätzlich aber wird der eCommerce durch Corona extrem beflügelt bleiben. Viele Leute haben die Vorzüge von Amazon durch Corona kennen- und schätzen gelernt. Die Frage, die man sich stellen muss ist: “Wie reagiere ich auf so einen Trend?”
Auch das Arbeitsleben verändert sich nachhaltig in Richtung Home Office. Das eröffnet viele Anwendungsfälle für Private Label Verkäufer, sei es durch Handauflagen, bestimmte Leuchten, Kabelmanagement Artikel, Mikrofone. Man muss kreativ bleiben und sich immer darauf einstellen dass die Produkte, die nicht “unique” sind und sich erfolgreich verkaufen, früher oder später von Chinesen überrannt werden. Das heißt, es gibt immer nur ein Zeitfenster, wo ich ein Produkt platzieren kann, das bestmögliche daraus ziehe aber dann weiterwandern muss. Oder ich habe Glück und werde von einem der großen M&A Gruppen akquiriert, mache einen schnellen Euro und kann mit diesem Geld weiterschauen. Ansonsten Augen auf bei Produkten, die viel Zuhause angewandt werden. Ich glaube, Reiseartikel werden weiter zurückgehen. Aber Home Office und natürlich auch Sachen, die zu Hause angewendet werden, sind der Zukunftstrend, der sich fortsetzen wird.
Marketplace Pulse berichtet von höheren Anforderungen für „Prime durch Verkäufer“ für den US-Markt. So sollen nur noch Versandmethoden verwendet werden, die auch eine Bearbeitung samstags ermöglichen. Ist etwas ähnliches für Deutschland geplant? Welche Auswirkungen wird die Änderung in den USA auf andere Marktplätze haben?
Igor Branopolski: Im SellerCentral gibt es eine Einstellung, dass man samstags und sonntags liefern kann, es ist aber keine Pflicht. Die Schwierigkeit in Deutschland besteht darin, dass die Möglichkeit einfach nicht besteht – kein Dienstleister liefert an 7 Tagen die Woche aus. Diskussionen darüber gab es schon immer, doch daran wird festgehalten und es wird sich sehr wahrscheinlich in naher Zukunft auch nichts ändern. Ich sehe daher keine Auswirkung der US-Umstände auf den deutschen Markt.
Produkte
Während der Corona Pandemie ist die Nachfrage nach Business-Anzügen stark gesunken, während die für Homewear stark gestiegen ist. Welche Produkttrends siehst Du für die kommenden Jahre?
Igor Branopolski: In der Corona-Pandemie verpufften die Trends wie Masken und Desinfektionsmittel sehr schnell. Es ist sehr schwierig über einen längeren Zeitraum so etwas vorher zu sagen. Man muss immer wieder die Trends beobachten und ggf. eigene Produktpalette anpassen. Was wir aber in den nächsten Monaten sehr deutlich spüren werden, ist die Ressourcen-Knappheit wegen der Containerschiff-Panne im Suezkanal. Das führt sehr wahrscheinlich zu einem weltweiten Anstieg der Rohstoff- und damit auch Artikelpreise.
Otto Kelm: Das kann wie die letzten 6 Monate der Hulla Hoop Reifen sein oder jeder andere Artikel den TikToker oder Influencer anpreisen oder eine neue Trendfarbe. Das ist ja das schöne bei solchen Sachen – niemand kennt sie vorher und wer schnell aufspringt wird kurzfristig erfolgreich sein – dann muss er schon das nächste Ass im Ärmel haben oder ständig bei DHDL einkaufen.
Ronny Marx: Man weiß ja nicht, was in den nächsten fünf Jahren passiert. Für Consumer sehe ich gute Jahre, da Preise in vielen Bereichen runtergehen werden. Viele Geschäfte, die nun pleite gehen, haben noch Waren auf Lager, in Warenhäusern oder Containern. Sobald sich die jetzige Situation normalisiert, werden in einigen Bereichen Märkte geflutet mit Produkten von Insolvenz-Verkäufern, die sagen: Da sind doch zigtausende Mikrofone, Kopfhörer etc. von Händlern, die es nicht mehr verkauft haben. Und die schmeißen dann ihre ganzen Produkte auf den Markt. Und wenn das passiert, dann werden in den bestimmten Bereichen die Preise dramatisch sinken und dann fängt die zweite Welle von Problemen an. Beispielsweise für Händler, die jetzt gut dastehen aber dann keine gute Marge mehr machen können, da der Markt mit Artikeln von insolvent gegangenen Konkurrenten überflutet ist. Das wird auch vielleicht ein interessanter – in Anführungszeichen – Trend” werden.
Kannst du abschließend eine Einschätzung abgeben: Was ist deine Vorhersage für die nächsten Jahre? Welche Trends werden sich langfristig durchsetzen oder siehst du vielleicht sogar Trends am Horizont, an die wir noch gar nicht gedacht haben?
Igor Branopolski: Der Markt wird sich wie auch die Jahre zuvor ständig ändern. Es geht darum höchst flexibel zu sein und nicht nur auf eine Karte zu setzen. Alles was starr und nicht automatisiert ist, wird es einfach nicht schaffen. Daher werden nur Businesses, die hochautomatisiert, extrem kundenfreundlich sind und immer mit der Hand auf dem Puls agieren, langfristig Erfolg haben und weiter wachsen.
Otto Kelm: Amazon und die Händler müssen den Schulterschluss suchen und finden! Von 35% auf über 65% sind die Händlerumsätze gestiegen. Amazon muss hier vom Kundendenken wegkommen und mehr für die Kooperation mit Händlern unternehmen!
Die Händler müssen sich vom Gedanken verabschieden, sie würden nur Artikel verkaufen. Zu viele Basics bleiben liegen, egal ob Content, SEO oder Advertising – da bleiben Potentiale liegen überall.
Der Trend AmazonDSP wird mit Sicherheit mehr und mehr Nutzung finden. Zudem wird AmazonB2B noch absolut unterschätzt. Hier kann man noch mehr Wachstum erreichen mit den passenden Artikeln.
Ansonsten wird Amazon, wie sich in der neuen App schon zeigt, mehr weg von Suchmaschine und mehr hin zu Stöbern und Inspirieren. Zudem muss Amazon ein soziales Netzwerk aufbauen am besten als Social Media Commerce Network.
Ronny Marx: Ich muss flexibel bleiben und die Augen offen halten. Beispielsweise hat Alibaba in Lüttich einen neuen Brückenkopf eingerichtet. Jedes Jahr werden 350 Millionen Pakete dahin geliefert und europaweit verteilt. Das sind knapp eine Million Pakete pro Tag. Aber auch andere Multi-Marken-Plattformen, wie ASOS aus UK oder auch Cdiscount in Frankreich. Galaxus in der Schweiz macht über einer Milliarde Umsatz – nur in der Schweiz. Das sind alles konsolidierte Plattformen und das ist ein Trend, der sich weiter durchsetzen wird. Man sollte sich also dreimal überlegen, ob ich mir ein Online-Shop aufbaue und dann vielleicht einen Marktplatz mache, oder doch lieber genau umgekehrt. Wenn was am Marktplatz nicht funktioniert, warum sollte das mit dem Online-Shop funktionieren? Es sei denn, man ist so speziell und hat eine so genaue Zielgruppe, die man online bewerben und ansprechen kann. Dann ist die nächste Frage: Wie krieg ich da Traffic hin? Auf Amazon kannst du es mit direkter Werbung machen, im eigenen Shop muss das richtige Zahlungsmittel angeboten werden und so weiter. Also, der Grundsatz: Erst Hausaufgaben auf den Marktplätzen machen, Marktplätze werden bleiben, die gehen nicht mehr weg. Und wenn das alles funktioniert, dann kann es sich vielleicht lohnen, auch über den Shop zu gehen und Multi-Channel machen.
Fazit
Amazon wird sich immer weiterentwickeln und seine Händler:innen weiter auf Trapp halten. Wichtig für Seller ist es, mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten und ein Unternehmen aufzubauen, dass widerstandsfähig und dennoch flexibel ist. Sie sollten nicht jedem Trend blind hinterherlaufen, sondern hinterfragen, ob es sich für Sie und für Ihr Business lohnt, auf diesen Zug aufzuspringen.
Wichtig ist es vor allem, auch sich auf die Kund:innen einzulassen und diese bei aller Automatisierung nicht aus den Augen zu verlieren. Das bedeutet aber nicht, dass Sie nicht auf Automatisierung setzen sollten. Ganz im Gegenteil: Um ein langfristig erfolgreiches Unternehmen aufzubauen, sollten Sie auf Automationen setzen, die Sie unterstützen. Allerdings müssen diese Tools dynamisch und intelligent arbeiten statt starr und regelbasiert.
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